Innovationen in der Berufsbildung

Berufliche Erstausbildung
Prof. Dr. Dieter Euler, Fation Dragoshi, Dr. Erka Çaro28.03.2023
Was macht eine Innovation in der Berufsbildung aus? – Prof. Dr. Dieter Euler, Professor für Bildungsmanagement und Wirtschaftspädagogik an der Universität St.Gallen, Fation Dragoshi und Dr. Erka Çaro des Projekts «Skills for Jobs» in Albanien haben die verblüffende Antwort von ChatGPT, einer künstlichen Intelligenz, als Ausgangspunkt genommen, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, was Innovation in der Berufsbildung bedeutet. Und sie haben dazu vier Thesen aufgestellt.

Was macht eine Innovation in der Berufsbildung aus? Wir haben ChatGPT, ein neues System künstlicher Intelligenz, um eine Antwort gebeten. Auf den ersten Blick scheint die Antwort des Chatbots verblüffend: «Innovation in der Berufsbildung kann sich auf eine Reihe von Veränderungen oder Fortschritte beziehen, die die Qualität der Berufsbildung verbessern und sie für die Auszubildenden relevanter und effektiver machen. Einige Schlüsselelemente, die eine Innovation in der Berufsbildung ausmachen, sind …» Es folgen sechs solche Schlüsselelemente, nämlich «relevanter Lehrplan», «Technologieintegration», «praxisorientiertes Lernen», «Industriepartnerschaften», «personalisiertes Lernen» und «kontinuierliche Verbesserung». Jedes der sechs Elemente wird in (genau) einem Satz erläutert, zum Beispiel: «Praxisorientiertes Lernen: Möglichkeiten für Schüler, praktische Erfahrungen durch Praktika, Lehrstellen und andere berufsbezogene Lernprogramme zu sammeln.»

Wir wollen an dieser Stelle nicht in die Debatte einsteigen, ob künstliche Intelligenz (KI) der menschlichen überlegen ist. Vielmehr nehmen wir die Antwort der KI als Ausgangspunkt, um ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, was Innovation in der beruflichen Bildung bedeutet. Dies soll anhand von vier Thesen geschehen.

1. Innovationen in der beruflichen Bildung sind kontextabhängig

«Innovation» ist ein relativer Begriff. Was für ein Land neu ist, kann in anderen Ländern bereits bekannt sein. So ist beispielsweise ein duales Berufsbildungssystem für Albanien – wo Swisscontact das Projekt «Skills for Jobs» (S4J) umsetzt – mit seiner langjährigen Praxis eines rein schulischen Systems völlig neu, hat aber z. B. in der Schweiz bereits eine lange Tradition. Bestimmte Lehrmethoden können für eine Lehrkraft neu sein, während sie für eine andere Lehrperson zur täglichen Unterrichtspraxis gehören. Vor diesem Hintergrund sind viele der Bestandteile, die als Baustein einer Innovation in der beruflichen Bildung eingeführt werden, z. B. der Einbezug von Technologie oder Industriepartnerschaften, nur in bestimmten Kontexten innovativ.

2. Innovationen sind oft Variationen oder Umwandlungen bekannter Konzepte

Sehr oft sind vermeintliche Innovationen nicht völlig neu, sondern bestehen darin, bestimmte Elemente hinzu- oder bekannte Elemente zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen, das die Veränderung ausmacht. Nur wenige Veränderungen sind grundlegend. Die meisten erfolgen schrittweise, indem das Neue in das Alte integriert wird. Zum Beispiel war das Konzept des Blended Learning, welches Technologieintegration mit traditionellem Präsenzunterricht kombiniert, bei Projektbeginn 2015 in der albanischen Berufsbildung nicht völlig neu. Allerdings wurde dieses integrierte Lernen von den Partnerschulen in der beruflichen Bildung auf die nächste Ebene gebracht, als das Projekt Lernmanagementsysteme, offene Bildungsressourcen und digitale Lernmaterialien einführte.

3. Innovationen werden von den Menschen oft ambivalent wahrgenommen

Menschen lieben Innovationen, aber sie hassen (oft) die damit verbundenen Veränderungen. Die Umsetzung von Innovationen erfordert Veränderungen in der Einstellung, im Verhalten und im Handeln der Menschen. Dies bedeutet nicht nur, sich an das Neue anzupassen, sondern sich auch vom Alten zu lösen. Oder um es mit den Worten der amerikanischen Autorin Marilyn Ferguson zu sagen: «Niemand kann einen anderen Menschen dazu überreden, sich zu ändern. Jeder von uns bewacht eine Tür zur Veränderung, die nur von innen geöffnet werden kann.» Bestehende Praktiken können aus der Sicht eines Einzelnen als sehr vernünftig angesehen werden, während sie aus der Sicht einer anderen dringend reformbedürftig sind. So lehnten die Berufsschulen in Albanien eine Diversifizierung ihres Angebots als Reaktion auf die von den Unternehmen geäusserten Bedürfnisse ab, da dies die Sicherheit der Arbeitsplätze der wenigen Lehrerinnen und Lehrer gefährden würde. Die S4J-Partnerschulen verpflichteten sich, ihr Angebot dynamischer zu machen, und begannen, Umschulungsprogramme für Lehrkräfte zu entwickeln.

Das Projekt

Das Projekt «Skills for Jobs» fördert neue Wege in der Berufsbildung. Es ist finanziert von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Das Projekt ist inspiriert vom Schweizer Modell und unterstützt lokale Akteure bei der Modernisierung des albanischen Berufsbildungssystems. Zwei Bereiche, in denen es gelungen ist, sinnvolle Veränderungen herbeizuführen, sind unter anderem arbeitsbezogenes Lernen in Unternehmen und hochwertiges Blended Learning durch die Integration bewährter digitaler Lösungen in den Präsenzunterricht.

4. Innovationen brauchen günstige Rahmenbedingungen

Das Entstehen von Innovationen ist wahrscheinlicher, wenn bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sind. Auslöser sind zum Beispiel ein dringendes Problem, das gelöst werden muss, und/oder eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit bestehenden Verfahrensweisen. Ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Benachteiligung sozialer Gruppen oder eine Pandemie können Gründe sein, sich um die Innovation eines Berufsbildungssystems zu bemühen. «Never waste a good crisis» ist ein treffendes Sprichwort, das darauf hinweist, dass die Menschen umso aufgeschlossener sind, je höher der Druck ist, Dinge zu verändern. Ausserdem brauchen Innovationen Rücksichtnahme, Unterstützung durch die Führung und ausreichend Zeit, um zu gedeihen.

Der richtige Führungsansatz und eine Unternehmenskultur, die Raum für das Testen und Ausprobieren von Neuem schafft und Misserfolge als einen weiteren Lernschritt betrachtet, fördern die Innovation. Eine risikoscheue Kultur, die nach vollständiger Kontrolle strebt, wird niemals innovativ sein, und Hektik ist kein fruchtbarer Boden für nachhaltige Innovation. Dies geht Hand in Hand mit der Notwendigkeit, neuartige Ideen zu testen und zu überarbeiten, um Gutes noch besser zu machen. Der Weg von der Innovation zur nachhaltigen Veränderung ist oft einer, der Ausdauer und Widerstandsfähigkeit gegen Rückschläge erfordert.

Die vier vorgestellten Vorschläge können als Grundlage für Überlegungen dazu dienen,

  • wie man den Kontext versteht,
  • wie man die Menschen motiviert, sich jeden Tag mit kleinen praktischen Innovationen zu beschäftigen, und ihnen hilft, zu verstehen, wie sie von neuen Ansätzen profitieren können, und
  • wie man Interessengruppen mit ins Boot holt, um ein günstiges Umfeld für dauerhafte Veränderungen zu schaffen.

Über die Autoren

Prof. em. Dr. Dieter Euler ist seit 2000 Professor im Ruhestand für Bildungsmanagement und Wirtschaftspädagogik an der Universität St.Gallen. Als Wissenschaftler steht für ihn die Innovation im Zentrum seines Berufs. Aber: Echte Veränderungen hängen nicht nur von Innovationen ab, sondern auch von einer guten Umsetzung. Probieren geht über Studieren!

Fation Dragoshi ist Projektleiter des von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) finanzierten Projekts «Skills for Jobs», das von Swisscontact in Albanien umgesetzt wird. Sein Werdegang ist eher untypisch: Ursprünglich Berufsmusiker, arbeitete er in den Bereichen Kunstmanagement, Kulturpolitik und Kulturtourismus, Beschäftigungsförderung und zuletzt in der Kompetenzentwicklung. Die Verbindung: Innovationsförderung und Humankapitalentwicklung.

Dr. Erka Çaro ist stellvertretende Leiterin des Projekts «Skills for Jobs». Sie hat einen akademischen Hintergrund und umfangreiche Erfahrung in den Bereichen menschliche Mobilität, Kompetenzentwicklung und Innovation im Bildungswesen. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Frage, wie Innovation genutzt werden kann, um junge Menschen zu stärken und ihr Engagement in Entwicklungsländern zu fördern.

2015 - 2027
Albanien
Berufliche Erstausbildung, Nachhaltiger Tourismus
Neue Kompetenzen für neue Arbeitsplätze (S4J)
«Skills for Jobs» (S4J) ist ein Projekt der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und wird von Swisscontact Albanien umgesetzt. Es ist Teil des Bereichs Wirtschaftliche Entwicklung der Schweizer Kooperationsstrategie für Albanien (2018-2021), mit besonderem Schwerpunkt auf der Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten und...